„Das hat es noch nie gegeben. Damit konnte niemand rechnen.“ Die Betroffenheit des bayrischen Ministerpräsidenten wirkte ehrlich, als er Anfang Juni 2024 die süddeutschen Überschwemmungsgebiete besuchte und für die Kameras posierte. Die Schäden, hervorgerufen durch Rekordregenfälle, Sturzfluten und Überschwemmungen, waren enorm. Das blanke Entsetzen ebenso.
„Damit konnte niemand rechnen.“ Wie kommt es eigentlich zu dieser Ahnungslosigkeit, dieser Ignoranz, könnte man berechtigterweise fragen? Die Klimaforschung warnt doch schon seit Jahrzehnten vor zunehmenden und stärkeren Wetterextremen – also mehr Hitze, mehr Dürre – und eben auch mehr Starkregen, mehr Überschwemmungen, mehr Hagel, mehr Ernteausfälle. Das extreme Wetter kommt in höherer Intensität und höherer Häufigkeit. Was es noch nie gegeben hat, droht zur Normalität zu werden. 2015 wurde genau deshalb das Pariser Klimaschutzabkommen beschlossen. 2019 haben 26.800 Wissenschafter:innen im deutschen Sprachraum erklärt, dass die momentanen Klimaschutzmaßnahmen nicht ausreichen. Und seit 2019 fordern Aktivist:innen unermüdlich von Gesellschaft und Politik ein, die drohende Katastrophe endlich ernst zu nehmen.
Kann all das einem Ministerpräsidenten völlig entgangen sein?
Ich glaube nicht. „Damit konnte niemand rechnen“ ist eine Schutzbehauptung. Psychologisch betrachtet muss die zur Schau gestellte Ahnungslosigkeit nicht einmal gespielt sein. Es ist höchstwahrscheinlich aufrichtige Ahnungslosigkeit. Denn die Realitätsverweigerung ist ein äußerst hilfreicher Mechanismus zur Bewahrung des eigenen mentalen Wohlbefindens im Angesicht des eigenen Versagens. Das positive Selbstbild will verteidigt werden. Gegen alle Einflüsse von außen, gegen alle Reality Checks. Die Alternative, nämlich den Fakten ins Auge zu sehen, wäre hingegen schmerzhaft, wenn man den so notwendigen Klimaschutz seit Jahren sabotiert hat und außerdem noch die Anpassungsmaßnahmen wie den Hochwasserschutz verschlafen hat. Das Verharren in der Selbsttäuschung ist angenehmer als das Eingestehen des eigenen Irrtums. Reflexionsbereitschaft und offener Umgang mit Fehlern sind eine menschliche Qualität, werden aber nicht als politisches Erfolgsrezept gesehen.
Das klimapolitische Versagen in Bayern und anderswo zeigt eben auch schonungslos auf, was der viel beschworene „Klimaschutz mit Hausverstand“ tatsächlich bedeutet.
Der Hausverstand ist ein Depp, wird Politikwissenschafter Reinhard Steurer nicht müde zu betonen. Der Hausverstand ist ein Depp, aber: Diese Feststellung widerspricht unserer Intuition. Für unser Bauchgefühl ist der Hausverstand wie eine Vertrauensperson, nicht erst seit seinem Job in einer heimischen Supermarktkette. (Ich frage mich: Hat er sich dort irgendwann klammheimlich verabschiedet, um in die Politikberatung zu wechseln?) Der Hausverstand ist quasi die Personifizierung unseres Erfahrungswissens. Haben wir es mit bekannten oder einfachen Sachverhalten zu tun, ist der Hausverstand ja tatsächlich kein schlechter Ratgeber: Nicht betrunken Auto fahren, sagt der Hausverstand. Nicht das Geld für billiges Klumpat rauswerfen, würde der Hausverstand sagen. Nicht dem per E-Mail zugestellten Angebot eines Millionenerbes der Bill & Melinda Gates Stiftung trauen, sagt der Hausverstand. Mit dem Erfahrungswissen des wohlvertrauten Hausverstands kommt man eigentlich ganz gut durch die meisten Entscheidungssituationen. Der Hausverstand, wie wir ihn kennen, ist kein Depp. Zumindest nicht bei einfachen Sachverhalten und in gut bekannten Situationen. Da hat er stets einfache und brauchbare Ratschläge parat.
Anders verhält es sich allerdings, wenn der Sachverhalt komplex wird oder wir es mit völlig neuen Situationen zu tun haben. Was es noch nie gegeben hat, das kennt der Hausverstand nicht. Was er nicht selbst erlebt, erfahren und gespürt hat, ist für den Hausverstand schwer fassbar. Wenn sich nun alle Grundlagen und Grundregeln ändern, wenn wir völlig neues Terrain betreten, dann gibt es keine Erfahrungswerte. Dann ist der Hausverstand aufgeschmissen. Dann ist der Hausverstand ein Depp.
Die Klimakatastrophe stellt die globale Zivilisation vor eine nie dagewesene Herausforderung. Sie ist intuitiv schwer greifbar, sie ist eine schleichende, weitgehend unsichtbare Bedrohung, für die es nicht die eine, einfach umsetzbare Lösung gibt. Mit dieser komplexen neuen Herausforderung ist der einfältige Hausverstand naturgemäß überfordert. Deshalb flüchtet er sich in hoffnungsvolle Beschwichtigung und Ignoranz: Alles nicht so schlimm, wir haben doch auch schon das Waldsterben und Ozonloch gemeistert, und auch damals haben die Alarmisten Weltuntergangsstimmung verbreitet.
Für eine drängende globalen Herausforderungen wie den Klimawandel ist dieser Hausverstand völlig unbrauchbar. Der einfältige Hausverstand trägt bei komplexen Problemen tendenziell zur Verschlimmerung bei. Bei aller Vertrautheit im Wahlvolk: Für verantwortungsvolle Politik ist der Hausverstand nicht zu gebrauchen.
Ganz angekommen scheint diese Erkenntnis bei politischen Vertretern im Jahr 2024 noch nicht zu sein, hat doch der burgenländisches Landeshauptmann ihm gerade seine Autobiographie gewidmet. Der burgenländische Landeshauptmann und der bayrische Ministerpräsident sind mit ihrer Ignoranz freilich nicht alleine. „Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“ meinte CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet im Zuge der Katastrophe im Ahrtal 2021, und „so ein Hochwasser-Polder zahlt sich nicht aus, der wird ja nur alle 100 Jahre einmal geflutet“, stellte Hubert Aiwanger 2018 fest. (Von Rettungsaktionen für Verbrennungsmotoren rede ich besser nicht.)
Die ernüchternde Erkenntnis ist: Eine Gesellschaft, die auf Hausverstand setzt, ist den neuen komplexen Herausforderungen nicht gewachsen. Um die Klimakrise zu bewältigen, braucht es Sachverstand, wie ebenfalls Reinhard Steurer wiederholt betont. Mit mehr Sachverstand und weniger Hausverstand lassen sich die schlimmsten Klimawandelfolgen noch vermeiden.
Dieser Text ist ein Ausschnitt der musikalischen Lesung mit Faltsch Wagoni am GECO Festival 2024.